Marco Kramer ist Assistenzarzt am LWL-Universitätsklinikum für Psychiatrie, Psychotherapie und Präventivmedizin in Bochum. Seit zwei Jahren betreut er, neben seiner Arbeit in der Forschung, die Einsamkeitssprechstunde. Wir haben mit ihm über diese Sprechstunde und auch über die Weihnachtszeit gesprochen. Wieso ist diese Zeit für Menschen, die sich einsam fühlen, aber auch für ihre Angehörigen besonders herausfordernd?
Herr Kramer, was ist die Einsamkeitssprechstunde?
Die Einsamkeitssprechstunde ist ein offenes Beratungsangebot für alle Menschen, die von sich selbst sagen, sie leiden unter Einsamkeit. Wir wollen eine erste Anlaufstelle bieten für ein Thema, welches, aktuellen Studien zufolge, über die letzten Jahre eher zunimmt und bei dem es noch nicht so viele Angebote gibt.
Haben Sie das Gefühl, dass die Sprechstunde gut angenommen wird?
Die Nachfrage ist auf jeden Fall da. Bei den meisten die zu uns kommen, habe ich das Gefühl, denen konnte man Tipps geben, die sie jetzt vorher noch nicht so kannten. Unsere Hoffnung hinter diesem sehr offenen Angebot ist, dass allein schon dieser Kontakt, das Gespräch mit uns, für die Menschen, die zu uns kommen, hilfreich ist.
Einsamkeit kann schnell zu einem Teufelskreis werden in dem man sich selbst, bedingt durch die eigene Einsamkeit, schnell abwertet und dann die Überzeugung hat, dass es alles an einem selbst liegt.
Marco Kramer
Wie kann ich mir den Ablauf eines Besuches bei Ihnen in der Sprechstunde vorstellen?
Aus meiner Perspektive ist es zweigeteilt. Zum einen gibt es die Diagnostik, in der wir herausfinden, was die hilfesuchende Person zu uns in die Sprechstunde führt. Wir versuchen herauszulesen, was für den Einzelnen „Einsamkeit“ bedeutet, unter welchen Bedingungen dieses Gefühl zustande kommt, aber auch gezielt zu gucken, ob psychische Störungen vorliegen könnten, die dann neben der Einsamkeit psychotherapeutisch oder medikamentös fachgerecht behandelt werden sollten. Wenn man beispielsweise eine vorliegende Depression oder Angststörung nicht behandelt, die zum sozialen Rückzug führt, dann hilft es dem Menschen mit seiner Einsamkeit oft auch nicht wirklich weiter.
Und was ist der zweite Teil?
Im zweiten Teil beraten wir die Menschen und unterstützen die hilfesuchende Person dabei, sich die Einsamkeit im Weiteren genauer anzuschauen. Das heißt, selbst wirklich in sich hineinzuhorchen und zu schauen, was ist das überhaupt und wie entwickelt sich das Gefühl über die Zeit? Welche Gedanken löst das alles in einem selbst aus? Wichtig dabei ist, zu versuchen, vorurteilsfrei zu akzeptieren und die Einsamkeit erstmal als etwas wahrzunehmen, was grundsätzlich ja erst mal normal ist. Jeder fühlt sich schließlich irgendwann im Laufe seines Lebens mal einsam. Je nach Lebenssituation sind die einen stärker betroffen, die anderen weniger. Einsamkeit kann schnell zu einem Teufelskreis werden in dem man sich selbst, bedingt durch die eigene Einsamkeit, schnell abwertet und dann die Überzeugung hat, dass es alles an einem selbst liegt. Da ergibt es Sinn, die eigene Einsamkeit erst mal wahrzunehmen und nicht gleich als negativ zu bewerten, sondern erstmal als Indikator dafür, dass man irgendetwas ändern sollte in seinem Leben.
Wir versuchen auch, die hilfesuchenden Personen dabei zu unterstützen, Gemeinschaft zu suchen und Kontakte zu knüpfen. Dabei achten wir aber auch immer darauf, was bei dem Einzelnen passt und was nicht.
Haben Sie in Ihrer Arbeit in der Einsamkeitssprechstunde eine Erkenntnis erlangt, die Sie besonders überrascht hat?
Was ich spannend finde, ist, dass sowohl meine Vorgängerin in der Einsamkeitssprechstunde als auch ich die Erfahrung gemacht haben, dass viele unserer Besucher*innen sich mit ihren Mitmenschen verkracht haben. Sie leiden dann darunter und wissen nicht, wie sie damit umgehen sollen.
Auch habe ich in diesem Jahr festgestellt, dass viele besonders unter den aktuellen ökonomischen Gegebenheiten gelitten haben. Zum Beispiel alleinstehende ältere Frauen haben oft einfach sehr wenig Geld, um mit ihren Mitmenschen Sachen zu unternehmen. Da ist man stellenweise gezwungen, sehr kreativ zu werden, um gangbare Wege aus der Einsamkeit zu finden.
Wir befinden uns mitten im Dezember. In der Weihnachtszeit. Wieso ist diese Jahreszeit so emotional aufgeladen?
Bei der Einsamkeit gibt es eine Diskrepanz zwischen der wahrgenommenen, gewünschten und erwarteten Menge und Intensität sozialer Kontakte und der letztendlich tatsächlichen. Häufig werden die tatsächlichen Kontakte, je nach kulturellem Hintergrund, in der Zeit sogar tendenziell mehr als weniger. Also muss es etwas mit dem subjektiven Wunsch nach Kontakten zu tun haben. Eine Erklärung dafür könnte sein, dass das kulturell überlieferte Bild der Weihnachtszeit das der gemeinschaftlichen Zeit ist. Es geht darum, Besinnlichkeit mit anderen zu erleben und die Zeit mit Familie und Freunden zu verbringen. Wenn man in dieser Zeit das Radio einschaltet oder Weihnachtsfilme im Fernsehen sieht, gibt es da ja meistens diesen einen Helden oder Antihelden, der darum kämpft, Weihnachten am Ende des Films mit seiner Familie verbringen zu können. Am Ende verbringen alle ihre Zeit in Gemeinsamkeit und alles ist toll. Diese Bilder bleiben natürlich hängen und wir erhöhen dadurch dann tendenziell das subjektive Verlangen danach. Oder weisen dann stärker auf diese Abweichung hin, die man sonst vielleicht ignoriert hätte.
Wenn man in dieser Zeit das Radio einschaltet oder Weihnachtsfilme im Fernsehen sieht, gibt es da ja meistens diesen einen Helden oder Antihelden, der darum kämpft, Weihnachten am Ende des Films mit seiner Familie verbringen zu können.
Marco Kramer
Haben Sie spezielle Empfehlungen für Menschen, die sich in dieser Zeit besonders einsam fühlen?
Ein festes Konzept kann ich da nicht aussprechen. Es ist ja immer sehr individuell, aus welchen Gründen man einsam ist. Was ich empfehlen kann, ist die Einsamkeit vorurteilsfrei zu akzeptieren und sich dann vielleicht auch mal ganz bewusst zu entscheiden, bestimmte weihnachtliche Rituale allein zu machen. Man verbindet Weihnachten immer damit mit anderen zusammen zu sein, dabei kann man Besinnlichkeit auch ganz gut selbst erleben. Sich zu Hause Kerzen anmachen, Weihnachtsmusik und Plätzchen backen ― dazu brauche ich nicht unbedingt andere. Es ist auch sinnvoll, bewusst diese Situationen auszuprobieren und danach zu reflektieren, ob es positive Seiten gibt, wenn man Dinge auch mal für sich alleine gestaltet. Ganz unabhängig davon, dass man sich einsam empfindet, und daran vielleicht auch langfristig was ändern möchte, indem man neue Kontakte knüpft. Hierfür gibt es wiederum in der Weihnachtszeit einige gute Angebote: solche Zusammenkünfte können etwa Adventskaffees von Senioren, Weihnachtssingen und Weihnachtsfeiern sein.
Was mache ich denn, wenn ich mich einsam fühle und für mich bei dem Versuch neue Kontakte zu knüpfen, erstmal keine gute Erfahrung mache?
Menschen, die sich einsam fühlen, können sich durch einen negativen Kontakt bedroht fühlen. Sich selbst abwerten, andere abwerten, den Kontakt zum Gegenüber abwerten, und sagen: „Ja, die weisen mich immer zurück“. Man zieht sich zurück und gerät so in einen Teufelskreis der Einsamkeit. Dies umzulernen würde letztendlich erfordern, was in der Psychologie kognitive Umstrukturierung genannt wird. Dass man sich selbst diese Mechanismen in einem ersten Schritt bewusst macht und wirklich darüber nachdenkt, was war in diesen Situationen, in denen ich nicht in Kontakt gekommen bin. Was ist da wirklich vorgegangen? Sowohl in der eigentlichen Situation als auch in mir selbst? Was habe ich in der Situation gedacht und gefühlt? Ist es so angemessen, wie ich darüber denke und fühle? Passt das eigentlich oder gibt es vielleicht auch andere Interpretation dieser Situation? Durch Hinterfragen öffnet man sich selbst dafür, dass es gar nicht immer an einem selbst liegt. Dass das Verhalten anderer oft gar nicht als Zurückweisung gemeint ist. Das ist wichtig, um dagegen vorzugehen. Es gab schon Menschen in der Einsamkeitssprechstunde, die hatten neue Bekanntschaften geknüpft und fühlten sich aber sehr schnell zurückgewiesen, wenn beispielsweise etwas mit der Terminfindung nicht klappte. Hinterher stellte sich dann heraus, dass das vom anderen gar nicht so gemeint war. Die andere Person war gerade einfach im Stress oder hatte einfach gerade eine andere Lebensrealität. Sie hätte sehr gerne Zeit verbringen wollen und man hat sich einfach nur missverstanden.
Kann es auch sinnvoll sein, ältere, bestehende Kontakte wieder aufleben zu lassen?
Gerade in der Weihnachtszeit, die wir als Zeit der Vergebung wahrnehmen, ist nicht nur das Knüpfen neuer Kontakte besonders interessant, sondern auch Kontakte zu intensivieren, die man schon hat. Zum Beispiel zu reflektieren, wieso man eigentlich nicht mehr so viel Kontakt wie früher mit Teilen der Familie oder bestimmten Freunden hat. Man kann sich überlegen, wie man vielleicht wieder mehr in Kontakt kommen kann. Da gibt es auch in der Weihnachtszeit Aktivitäten, die man gut zusammen machen kann. Einen gemeinschaftlichen Gang zum Weihnachtsmarkt zum Beispiel. Vielleicht ist mein Gegenüber, in dieser Zeit der Vergebung, auch offener dafür, einen Kontakt, der im Streit auseinander ging, wieder aufleben zu lassen. Das macht es gerade in der Weihnachtszeit attraktiv, einfach mal zu analysieren, was man aktuell für Kontakte hat und in den letzten Jahren hatte. Wo kann ich vielleicht noch mal irgendwo anknüpfen?
Wir haben nun erfahren, dass man sich als Mensch, der sich einsam fühlt, von Begegnungen schnell bedroht fühlen kann. Wie kann ein Angehöriger einen positiven Umgang mit einsamen Menschen begünstigen, gerade mit dem Fokus zur Weihnachtszeit?
Auf jeden Fall sollte man sich mit gut gemeinten Ratschlägen zurückhalten, die vielleicht nicht den Kern der Problematik treffen. Manchmal gibt es bei Angehörigen auch das Bestreben, Druck aufzubauen, nach dem Motto: „ Jetzt mach doch mal das und das.“ Das ist etwas, das sollte jeder für sich selbst entscheiden. Man sollte da nur Angebote machen und das Gegenüber selbst aussuchen lassen, was in dieser Situation passend ist.
Generell sollte man bei Streit und Kommunikation darauf achten, Ich-Botschaften zu verwenden und offen darüber zu sprechen, wie man sich fühlt.
Marco Kramer
Nun kommt es nicht selten vor, dass am Heiligen Abend unter Alkoholeinfluss die Möglichkeit ergriffen wird, die großen Konflikte zu thematisieren. Haben sie Ideen, wie man da vorbeugend mit umgehen kann?
Da muss man wahrscheinlich eine gewisse Feinfühligkeit mit sich bringen und an einem solchen Abend mal Fünfe gerade sein lassen. Nicht unbedingt ausgerechnet diesen Abend dazu nutzen, immer Salz in die Wunden zu streuen. Und bestimmte Themen dann versuchen zu umschiffen, nicht um sie zu verdrängen, sondern um sie irgendwann, wenn es passender ist, anzusprechen. Das gelingt leider nicht immer. Generell sollte man bei Streit und Kommunikation darauf achten, Ich-Botschaften zu verwenden und offen darüber zu sprechen, wie man sich fühlt. Warum man sich jetzt vielleicht gerade von dem anderen angegriffen fühlt. Und dabei auf jeden Fall auf Vorwürfe zu verzichten!
Ich glaube, eine gute erste Reaktion auf ein akutes Einsamkeitsempfinden ist es, sich einem Menschen anzuvertrauen, den man kennt und vertraut.
Marco Kramer
Haben Sie Tipps für Erste-Hilfe-Maßnahmen, bei einem akuten Einsamkeitsgefühl in dieser Jahreszeit?
Ich glaube, eine gute erste Reaktion auf ein akutes Einsamkeitsempfinden ist es, sich einem Menschen anzuvertrauen, den man kennt und vertraut. Und dann einfach darüber zu sprechen. Das kann einem schon sehr helfen.
Und es gibt natürlich verschiedene Angebote, falls kein vertrauter Mensch zur Stelle ist. Die Telefonseelsorge ist immer erreichbar. Bei ganz akuten, großen psychischen Problemen gibt es bei uns im Haus immer einen Notdienst, den man erreichen kann. (Anm. der Redaktion: Verweise hierzu am Ende des Artikels.)
Ansonsten weise ich an dieser Stelle gerne auf ein ganz aktuelles und wertvolles Angebot von Professor Juckel, dem Leiter unserer Klinik, hin: Er bietet zur Zeit jeden Donnerstag von 18 bis 20 Uhr eine offene Sprechstunde im Katholischen Stadthaus in der Huestraße 15 in der Bochumer Innenstadt an. Alle sind eingeladen und können dort hinkommen. Auch, um über Gefühle zu sprechen, die über die Einsamkeit hinausgehen.
Marco Kramer ist Assistenzarzt am LWL-Universitätsklinikum für Psychiatrie, Psychotherapie und Präventivmedizin in Bochum. Seit zwei Jahren betreut er, neben seiner Arbeit in der Forschung, die Einsamkeitssprechstunde. Wir haben mit ihm über diese Sprechstunde und auch über die Weihnachtszeit gesprochen. Wieso ist diese Zeit für Menschen, die sich einsam fühlen, aber auch für ihre Angehörigen besonders herausfordernd?
Herr Kramer, was ist die Einsamkeitssprechstunde?
Die Einsamkeitssprechstunde ist ein offenes Beratungsangebot für alle Menschen, die von sich selbst sagen, sie leiden unter Einsamkeit. Wir wollen eine erste Anlaufstelle bieten für ein Thema, welches, aktuellen Studien zufolge, über die letzten Jahre eher zunimmt und bei dem es noch nicht so viele Angebote gibt.
Haben Sie das Gefühl, dass die Sprechstunde gut angenommen wird?
Die Nachfrage ist auf jeden Fall da. Bei den meisten die zu uns kommen, habe ich das Gefühl, denen konnte man Tipps geben, die sie jetzt vorher noch nicht so kannten. Unsere Hoffnung hinter diesem sehr offenen Angebot ist, dass allein schon dieser Kontakt, das Gespräch mit uns, für die Menschen, die zu uns kommen, hilfreich ist.
Wie kann ich mir den Ablauf eines Besuches bei Ihnen in der Sprechstunde vorstellen?
Aus meiner Perspektive ist es zweigeteilt. Zum einen gibt es die Diagnostik, in der wir herausfinden, was die hilfesuchende Person zu uns in die Sprechstunde führt. Wir versuchen herauszulesen, was für den Einzelnen „Einsamkeit“ bedeutet, unter welchen Bedingungen dieses Gefühl zustande kommt, aber auch gezielt zu gucken, ob psychische Störungen vorliegen könnten, die dann neben der Einsamkeit psychotherapeutisch oder medikamentös fachgerecht behandelt werden sollten. Wenn man beispielsweise eine vorliegende Depression oder Angststörung nicht behandelt, die zum sozialen Rückzug führt, dann hilft es dem Menschen mit seiner Einsamkeit oft auch nicht wirklich weiter.
Und was ist der zweite Teil?
Im zweiten Teil beraten wir die Menschen und unterstützen die hilfesuchende Person dabei, sich die Einsamkeit im Weiteren genauer anzuschauen. Das heißt, selbst wirklich in sich hineinzuhorchen und zu schauen, was ist das überhaupt und wie entwickelt sich das Gefühl über die Zeit? Welche Gedanken löst das alles in einem selbst aus? Wichtig dabei ist, zu versuchen, vorurteilsfrei zu akzeptieren und die Einsamkeit erstmal als etwas wahrzunehmen, was grundsätzlich ja erst mal normal ist. Jeder fühlt sich schließlich irgendwann im Laufe seines Lebens mal einsam. Je nach Lebenssituation sind die einen stärker betroffen, die anderen weniger. Einsamkeit kann schnell zu einem Teufelskreis werden in dem man sich selbst, bedingt durch die eigene Einsamkeit, schnell abwertet und dann die Überzeugung hat, dass es alles an einem selbst liegt. Da ergibt es Sinn, die eigene Einsamkeit erst mal wahrzunehmen und nicht gleich als negativ zu bewerten, sondern erstmal als Indikator dafür, dass man irgendetwas ändern sollte in seinem Leben.
Wir versuchen auch, die hilfesuchenden Personen dabei zu unterstützen, Gemeinschaft zu suchen und Kontakte zu knüpfen. Dabei achten wir aber auch immer darauf, was bei dem Einzelnen passt und was nicht.
Haben Sie in Ihrer Arbeit in der Einsamkeitssprechstunde eine Erkenntnis erlangt, die Sie besonders überrascht hat?
Was ich spannend finde, ist, dass sowohl meine Vorgängerin in der Einsamkeitssprechstunde als auch ich die Erfahrung gemacht haben, dass viele unserer Besucher*innen sich mit ihren Mitmenschen verkracht haben. Sie leiden dann darunter und wissen nicht, wie sie damit umgehen sollen.
Auch habe ich in diesem Jahr festgestellt, dass viele besonders unter den aktuellen ökonomischen Gegebenheiten gelitten haben. Zum Beispiel alleinstehende ältere Frauen haben oft einfach sehr wenig Geld, um mit ihren Mitmenschen Sachen zu unternehmen. Da ist man stellenweise gezwungen, sehr kreativ zu werden, um gangbare Wege aus der Einsamkeit zu finden.
Wir befinden uns mitten im Dezember. In der Weihnachtszeit. Wieso ist diese Jahreszeit so emotional aufgeladen?
Bei der Einsamkeit gibt es eine Diskrepanz zwischen der wahrgenommenen, gewünschten und erwarteten Menge und Intensität sozialer Kontakte und der letztendlich tatsächlichen. Häufig werden die tatsächlichen Kontakte, je nach kulturellem Hintergrund, in der Zeit sogar tendenziell mehr als weniger. Also muss es etwas mit dem subjektiven Wunsch nach Kontakten zu tun haben. Eine Erklärung dafür könnte sein, dass das kulturell überlieferte Bild der Weihnachtszeit das der gemeinschaftlichen Zeit ist. Es geht darum, Besinnlichkeit mit anderen zu erleben und die Zeit mit Familie und Freunden zu verbringen. Wenn man in dieser Zeit das Radio einschaltet oder Weihnachtsfilme im Fernsehen sieht, gibt es da ja meistens diesen einen Helden oder Antihelden, der darum kämpft, Weihnachten am Ende des Films mit seiner Familie verbringen zu können. Am Ende verbringen alle ihre Zeit in Gemeinsamkeit und alles ist toll. Diese Bilder bleiben natürlich hängen und wir erhöhen dadurch dann tendenziell das subjektive Verlangen danach. Oder weisen dann stärker auf diese Abweichung hin, die man sonst vielleicht ignoriert hätte.
Haben Sie spezielle Empfehlungen für Menschen, die sich in dieser Zeit besonders einsam fühlen?
Ein festes Konzept kann ich da nicht aussprechen. Es ist ja immer sehr individuell, aus welchen Gründen man einsam ist. Was ich empfehlen kann, ist die Einsamkeit vorurteilsfrei zu akzeptieren und sich dann vielleicht auch mal ganz bewusst zu entscheiden, bestimmte weihnachtliche Rituale allein zu machen. Man verbindet Weihnachten immer damit mit anderen zusammen zu sein, dabei kann man Besinnlichkeit auch ganz gut selbst erleben. Sich zu Hause Kerzen anmachen, Weihnachtsmusik und Plätzchen backen ― dazu brauche ich nicht unbedingt andere. Es ist auch sinnvoll, bewusst diese Situationen auszuprobieren und danach zu reflektieren, ob es positive Seiten gibt, wenn man Dinge auch mal für sich alleine gestaltet. Ganz unabhängig davon, dass man sich einsam empfindet, und daran vielleicht auch langfristig was ändern möchte, indem man neue Kontakte knüpft. Hierfür gibt es wiederum in der Weihnachtszeit einige gute Angebote: solche Zusammenkünfte können etwa Adventskaffees von Senioren, Weihnachtssingen und Weihnachtsfeiern sein.
Was mache ich denn, wenn ich mich einsam fühle und für mich bei dem Versuch neue Kontakte zu knüpfen, erstmal keine gute Erfahrung mache?
Menschen, die sich einsam fühlen, können sich durch einen negativen Kontakt bedroht fühlen. Sich selbst abwerten, andere abwerten, den Kontakt zum Gegenüber abwerten, und sagen: „Ja, die weisen mich immer zurück“. Man zieht sich zurück und gerät so in einen Teufelskreis der Einsamkeit. Dies umzulernen würde letztendlich erfordern, was in der Psychologie kognitive Umstrukturierung genannt wird. Dass man sich selbst diese Mechanismen in einem ersten Schritt bewusst macht und wirklich darüber nachdenkt, was war in diesen Situationen, in denen ich nicht in Kontakt gekommen bin. Was ist da wirklich vorgegangen? Sowohl in der eigentlichen Situation als auch in mir selbst? Was habe ich in der Situation gedacht und gefühlt? Ist es so angemessen, wie ich darüber denke und fühle? Passt das eigentlich oder gibt es vielleicht auch andere Interpretation dieser Situation? Durch Hinterfragen öffnet man sich selbst dafür, dass es gar nicht immer an einem selbst liegt. Dass das Verhalten anderer oft gar nicht als Zurückweisung gemeint ist. Das ist wichtig, um dagegen vorzugehen. Es gab schon Menschen in der Einsamkeitssprechstunde, die hatten neue Bekanntschaften geknüpft und fühlten sich aber sehr schnell zurückgewiesen, wenn beispielsweise etwas mit der Terminfindung nicht klappte. Hinterher stellte sich dann heraus, dass das vom anderen gar nicht so gemeint war. Die andere Person war gerade einfach im Stress oder hatte einfach gerade eine andere Lebensrealität. Sie hätte sehr gerne Zeit verbringen wollen und man hat sich einfach nur missverstanden.
Kann es auch sinnvoll sein, ältere, bestehende Kontakte wieder aufleben zu lassen?
Gerade in der Weihnachtszeit, die wir als Zeit der Vergebung wahrnehmen, ist nicht nur das Knüpfen neuer Kontakte besonders interessant, sondern auch Kontakte zu intensivieren, die man schon hat. Zum Beispiel zu reflektieren, wieso man eigentlich nicht mehr so viel Kontakt wie früher mit Teilen der Familie oder bestimmten Freunden hat. Man kann sich überlegen, wie man vielleicht wieder mehr in Kontakt kommen kann. Da gibt es auch in der Weihnachtszeit Aktivitäten, die man gut zusammen machen kann. Einen gemeinschaftlichen Gang zum Weihnachtsmarkt zum Beispiel. Vielleicht ist mein Gegenüber, in dieser Zeit der Vergebung, auch offener dafür, einen Kontakt, der im Streit auseinander ging, wieder aufleben zu lassen. Das macht es gerade in der Weihnachtszeit attraktiv, einfach mal zu analysieren, was man aktuell für Kontakte hat und in den letzten Jahren hatte. Wo kann ich vielleicht noch mal irgendwo anknüpfen?
Wir haben nun erfahren, dass man sich als Mensch, der sich einsam fühlt, von Begegnungen schnell bedroht fühlen kann. Wie kann ein Angehöriger einen positiven Umgang mit einsamen Menschen begünstigen, gerade mit dem Fokus zur Weihnachtszeit?
Auf jeden Fall sollte man sich mit gut gemeinten Ratschlägen zurückhalten, die vielleicht nicht den Kern der Problematik treffen. Manchmal gibt es bei Angehörigen auch das Bestreben, Druck aufzubauen, nach dem Motto: „ Jetzt mach doch mal das und das.“ Das ist etwas, das sollte jeder für sich selbst entscheiden. Man sollte da nur Angebote machen und das Gegenüber selbst aussuchen lassen, was in dieser Situation passend ist.
Nun kommt es nicht selten vor, dass am Heiligen Abend unter Alkoholeinfluss die Möglichkeit ergriffen wird, die großen Konflikte zu thematisieren. Haben sie Ideen, wie man da vorbeugend mit umgehen kann?
Da muss man wahrscheinlich eine gewisse Feinfühligkeit mit sich bringen und an einem solchen Abend mal Fünfe gerade sein lassen. Nicht unbedingt ausgerechnet diesen Abend dazu nutzen, immer Salz in die Wunden zu streuen. Und bestimmte Themen dann versuchen zu umschiffen, nicht um sie zu verdrängen, sondern um sie irgendwann, wenn es passender ist, anzusprechen. Das gelingt leider nicht immer. Generell sollte man bei Streit und Kommunikation darauf achten, Ich-Botschaften zu verwenden und offen darüber zu sprechen, wie man sich fühlt. Warum man sich jetzt vielleicht gerade von dem anderen angegriffen fühlt. Und dabei auf jeden Fall auf Vorwürfe zu verzichten!
Haben Sie Tipps für Erste-Hilfe-Maßnahmen, bei einem akuten Einsamkeitsgefühl in dieser Jahreszeit?
Ich glaube, eine gute erste Reaktion auf ein akutes Einsamkeitsempfinden ist es, sich einem Menschen anzuvertrauen, den man kennt und vertraut. Und dann einfach darüber zu sprechen. Das kann einem schon sehr helfen.
Und es gibt natürlich verschiedene Angebote, falls kein vertrauter Mensch zur Stelle ist. Die Telefonseelsorge ist immer erreichbar. Bei ganz akuten, großen psychischen Problemen gibt es bei uns im Haus immer einen Notdienst, den man erreichen kann. (Anm. der Redaktion: Verweise hierzu am Ende des Artikels.)
Ansonsten weise ich an dieser Stelle gerne auf ein ganz aktuelles und wertvolles Angebot von Professor Juckel, dem Leiter unserer Klinik, hin: Er bietet zur Zeit jeden Donnerstag von 18 bis 20 Uhr eine offene Sprechstunde im Katholischen Stadthaus in der Huestraße 15 in der Bochumer Innenstadt an. Alle sind eingeladen und können dort hinkommen. Auch, um über Gefühle zu sprechen, die über die Einsamkeit hinausgehen.
Telefonseelsorge
https://online.telefonseelsorge.de/
Notdienst des LWL-Universitätsklinikums Bochum
https://uk-bochum.lwl.org/de/klinik-fur-psychiatrie-psychotherapie-und-praventivmedizin/die-klinik/ambulanz/