über das projekt.

Wann hast du dich das letzte Mal einsam gefühlt? Wusstest Du, dass sich ungefähr 30 Millionen Menschen in Europa regelmäßig einsam fühlen? Einsamkeit ist eine der gesamtgesellschaftlichen Herausforderungen unserer Zeit. Doch was ist Einsamkeit? Was löst sie aus? Und wie kann man ihr begegnen?

Um sich und anderen diese Fragen zu stellen, haben wir das Projekt „eigen. Von Einsam- und Gemeinsamkeiten“ geschaffen. Wir sind Nura, Sonja und Tim, sowie vielen helfende Hände, die uns im Hintergrund unterstützen. Ins Leben gerufen hat das Projekt der Bochumer Fotograf Tim Kramer. Wie Tim zu der Idee kam, erzählt er uns hier.

Bochum, 23. Mai 2021. Im Fußballstadion an der Castroper Straße pfeift der Schiedsrichter das Spiel des VfL Bochum gegen den SV Sandhausen ab. Der VfL siegt 3:1. Es ist ein besonderes Spiel: Nach 11 Jahren steigt der VfL Bochum durch den Sieg in die erste Bundesliga auf. Außerdem sind im Stadion keine Zuschauerinnen und Zuschauer zugelassen, wegen der Pandemie. Hier sind die Ränge leer, die Ostkurve, in der sonst die Bochumer Fans stehen, komplett verwaist.

Ich bin VfL-Fan seit dreißig Jahren und arbeite heute als Fotograf für den VfL Bochum. Der Aufstieg nach 11 Jahren ist das wohl größte Erlebnis, das ich als Fan und Mitarbeiter miterleben darf. Live im Stadion, als einer von etwa hundert ausgewählten Menschen vor Ort. Im Stadion liegen sich alle Spieler und die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Heimmannschaft freudig in den Armen. Vor dem Stadion, so hört es sich so an, scheint sich die ganze Stadt versammelt zu haben. Zwischen uns eine dicke Betonmauer, die Fans und Mannschaft voneinander trennt.

Nach dem Abpfiff funktioniere ich einfach. Komplett im Tunnel, mein Auge ununterbrochen am Sucher meiner Kamera. Überall um mich herum Motive. Ich konserviere sie für die Zukunft. Alles fühlt sich surreal an. Eine Hand voll Menschen feiert gerade einen der größten Tage unserer Stadt – während überall Social distancing und Verzicht die obersten Gebote sind.

Mir klopft jemand auf die Schulter. „Kannst Du ein Foto von mit und der Meisterschale mache?“ Ich kehre zurück in den Tunnel, bin in meiner Welt. Die Feierlichkeiten auf dem Rasen neigt sich dem Ende und die Mannschaft zieht für weitere Kaltgetränke in die Kabine. Ein heiliger Ort, den ich sonst am Spieltag nicht betreten darf. Doch heute ist alles egal. Was hier passiert, ist Geschichte und ich bin der Einzige vor Ort, der sie mit seiner Kamera dokumentiert. 

Nach abschließenden Feierlichkeiten im Pool neben der Kabine zieht die Mannschaft weiter ins Hotel, um mit ihren Familien weiterzufeiern. Ich hadere mit mir. Soll ich mit, oder bleibe ich hier? Soll ich diese Momente festhalten oder lasse ich der Mannschaft diesen privaten Augenblick für sich und ihre Familien? Ich bleibe am Stadion.

Das erste Mal bin ich allein an diesem großen Tag. Während der Auslöser meiner Kamera still bleibt, toben immer mehr Gedanken in meinem Kopf. 

Keine freudigen über dieses Ereignis, dessen Zeuge ich sein darf. Gewissensbisse, weil ich hier bin und meine Freunde, die ebenfalls VfL-Fans sind, nicht; weil Familien derzeit nicht mal die Schulabschlüsse ihrer Kinder zusammen feiern dürfen und sich hier, in der Welt des Fußballs, gerade alle in den Armen liegen; weil es sich für mich falsch anfühlt, in einem Pulk von Menschen zu sein; weil ich mich nicht freue wie alle anderen. 

Ich beginne an mir zu zweifeln. Dann an meiner Arbeit.

Die ganzen verpassten Motive, jedes einzelne Mal, wenn ich den Fokus nicht richtig gesetzt habe oder meine Aufmerksamkeit am falschen Ort war. So viele verpasste Chancen. Hätte ich doch mit ins Hotel fahren sollen? Ich habe ja immerhin eine Chronistenpflicht. Und ich war an diesem Abend der einzige Fotograf mit der Gelegenheit, die Geschichte dort festzuhalten. 

Oben auf dem Balkon sehe ich meine Kolleginnen und Kollegen feiern. Sie fühlen sich unendlich weit weg an. Ich gehe ins Stadion, setze mich auf den Rasen. Ein Stadion für mich ganz alleine. Mein Freund und Kollege Max kommt irgendwann zu mir, setzt sich , wir trinken ein Bier und halten inne. Die Auszeit tut mir gut. Wir gehen hoch zu den anderen, die gemeinsam lachen und trinken. Ich möchte gerne mit ihnen feiern, kann mich aber nicht darauf einlassen, will irgendwie einfach nur weg. Nach Hause, weg von dem allen. Ich entschuldige mich unter einem Vorwand und mache mich auf den Weg, ohne mich zu verabschieden. Auf dem Heimweg ärgere ich mich: Wieso bin ich nicht in der Lage, diesen Abend zu genießen? Mal Spaß zu haben, wenn ich schon falsche Entscheidungen getroffen habe und nicht zufrieden mit mir bin. Einfach Loslassen! Zu Hause angekommen öffne ich ein Bier, setze mich an den Rechner und flüchte vor den Gedanken und mir selbst in die Arbeit, machte die Fotos fertig von diesem schönsten Tag, den ich als VfL-Fan jemals erleben durfte.

Dies ist nur eine von vielen Geschichten, in denen ich mich unter Menschen allein fühlte, deplatziert, anders als der Rest. Einsam. Das kann ein bedrückendes Gefühl sein, aber auch mal ein panisches. Besonders im letzten Jahr gab es Ereignisse in meinem Leben, die mich isoliert und schwerwiegende Themen in den Mittelpunkt gerückt haben: Das Ende einer langjährigen Beziehung, Verlustängste, das Nachdenken über Tod, Krankheit und Existenz, berufliche Probleme, das Loslösen von einem Menschen, der mit sehr viel bedeutet. Nach einem schweren Verkehrsunfall kam ich in ein Krankenhaus und wusste auf die Frage nach einem Notfallkontakt keine Antwort. Langsam begann ich zu verstehen, dass Alleinsein und Einsamkeit Teile meines Lebens sind.

Ich habe mich nach einer helfenden Hand gesehnt und nach jemandem, der mich aus meinen Problemen herauszieht, bis ich verstand, dass ich selbst der Einzige bin, der das kann. Ich habe seitdem gelernt, mit mir selbst auszukommen, alleine Essen zu gehen, alleine zu verreisen. Ich habe neue und alte Beziehungen auf- und ausgebaut. Über die schlimmste Zeit hat mich übrigens mein „Coronahund“ Bruno gerettet, ein treuer Freund, den ich zu jeder Zeit gerne an meiner Seite habe.

Mit Einsamkeit habe ich noch immer zu kämpfen und so wurde die Idee zu „eigen.“ geboren. Mit diesem Projekt möchte ich mich mit Einsamkeit auseinandersetzen und vielleicht einen Umgang mit ihr finden. Ich möchte herausfinden, wie es andern Menschen damit geht, was für vielfältige Gesichter die Einsamkeit noch parat hat, und warum wir Menschen darüber so ungern reden. Wieso ist das Thema so sehr mit Scham behaftet, vor allem bei Männern? 

Meiner Erfahrung nach lernt man über sich selbst am meisten durch Gespräche mit anderen. Ich möchte mich auf die Reise durch mein geliebtes Bochum machen und mich mit anderen zur Einsamkeit austauschen. Ich möchte von und mit ihnen lernen, ihre Geschichten und Empfindungen erfahren, alte Kreise durchbrechen und in Neue eintreten.