reportage

anna, 23

Anna ist umtriebig, immer viel unterwegs. In den letzten Tagen ging es vom Besuch ihrer Großeltern in Italien direkt nach Köln, zu einer wichtigen politischen Veranstaltung. Kaum war diese vorbei, ist sie nach Bochum, und damit auch wieder fließend in ihren Alltag, zurückgekehrt. Bei so viel Trubel ist es kein Wunder, dass die Wände noch kahl sind — ihr Terminkalender ist es jedenfalls nicht. Sie studiert Philosophie, Politik und Ökonomik, ist sowohl Mitglied des Bochumer Stadtrats als auch der Grünen Fraktion im Ruhrparlament und ganz nebenbei noch stellvertretende Bezirksbürgermeisterin in Bochum-Mitte. Das ist eine recht kleine Auswahl ihrer Aktivitäten, sowie die Route von Bochum nach Berlin nur eine ihrer Pendelstrecken ist.

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„Manchmal ist man überall, aber nirgendwo so richtig.“, sagt sie lachend und etwas wehmütig zugleich. „Da hat man das Gefühl, man ist gerade irgendwo mal angekommen und dann auch schon wieder weg.“ Ihr Freundes- und Bekanntenkreis ist geographisch weit verteilt. Die Dreiundzwanzigjährige ist es gewohnt, punktuell einen sehr intensiven Kontakt mit Menschen zu pflegen, kurz darauf wieder weiterzuziehen und dann aus der Ferne an deren Leben teilzuhaben. „Manchmal fragt man sich dann schon, wie sehr gehört man dazu? Und wie fühlt sich das für die anderen Personen an?“

Die Unterführung am Hauptnahnhof passiert Anna nicht nur auf ihren Reisen.

Anna ist ein offener Mensch, sie lernt viele Leute kennen und knüpft schnell Kontakte, sowohl in der analogen als auch in der digitalen Welt. Soziale Medien sind für sie ein ambivalentes Thema. Online hat sie viele Bekanntschaften geschlossen und aus einigen sind echte Freundschaften gewachsen. „Die Zeit, die man jeden Tag am Handy verbringt, ist ja häufig eine sehr einsame, weil es einfach Konsum ist und wenig Austausch.“, erklärt sie. Einsamkeit ist für sie ein Gefühl, das zum Leben dazugehört, es aber keinesfalls bestimmt.

Die gebürtige Bochumerin ist in vielen unterschiedlichen Welten unterwegs und hüpft dabei gelegentlich von einem Mikrokosmos in den nächsten. Das ist nicht immer einfach. Auf dem politischen Parkett treffen verschiedene Lebensrealitäten aufeinander. Manch anderes Gremienmitglied ist doppelt so lange im Amt, wie es Anna auf dieser Erde überhaupt gibt. Früher verspürte sie manchmal die Notwendigkeit, sich zu beweisen, damit ihre Inhalte auch Gehör finden. Heutzutage hat die Ratsfrau ein anderes Selbstvertrauen. Sie versteht es jetzt als Selbstverständlichkeit, mit ihrer eigenen Erfahrung für sich selbst und andere einzutreten. Das musste sie sich erarbeiten. Heute wird sie an dem gemessen, was sie tut. Nicht an ihrem Alter oder anderen unwesentlichen Merkmalen. Auch sich zu öffnen, sich selbst verletzlich zu machen, war etwas, das Anna in ihrer Laufbahn erst lernen musste. „Im politischen Betrieb überlebt man nicht, wenn man nicht lernt, sich anderen Menschen in der politischen Welt anzuvertrauen.“ Manchmal braucht es eine zweite Perspektive, um die vielschichtigen und verantwortungsträchtigen Themen zu durchdringen. Da erlaubt die schiere Komplexität politischer Themen oftmals nicht, dass die Politikerin ihre alltäglichen Probleme und Herausforderungen mit ihren Nächsten teilt. „Das ist manchmal so komplex, dass ich es gar nicht vermitteln kann.“

Anna steht ihren Eltern und ihrem Zwillingsbruder sehr nahe. Zusätzlich umgibt sie ein verlässlicher Freundeskreis. Und doch vermisst sie manchmal die Möglichkeit, die reine Fähigkeit, sich mehr mitteilen zu können. „Ich bin schon jemand, der meint, Dinge erst mit sich selbst ausmachen zu müssen und erst dann mit anderen zu kommunizieren. Manchmal merke ich, dass ich mich im Kreis drehe und nicht herauskomme. Die Einsicht, das schneller zu kommunizieren, ist zwar theoretisch da – die Umsetzung dann aber nicht immer. Das kann eine richtige Negativspirale werden.“

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Das Auftauchen aus diesen Gedankenstrudeln gelingt ihr häufig nur dann, wenn sie mit Menschen spricht, die ihr wirklich sehr vertraut sind. Annas Mutter ist so eine Person. „Ich glaube, was da hilft, das zu lösen, ist dann wieder eine Form von Kontakt. Da muss man dann teilweise auch wirklich den Mut zu haben, seine eigene Unsicherheit offenzulegen … oder sein eigenes Ich-weiß-nicht-weiter.“

Viele Bürger*innen in Annas Bezirk wünschen sich mehr Tischtennisplatten.

Anna ist in einem stabilen Haushalt groß geworden. Sie und ihr Bruder lernten früh von der Mutter, dass ihre Lebensumstände nicht selbstverständlich seien. Als Tochter eines italienischen Gastarbeiters war es der Mutter wichtig, ihre Kinder mit einer umfassenden und realitätsnahen Perspektive aufzuziehen.

Anna grenzt sich manchmal ganz bewusst ab. Sie erzählt von einer Konferenz. Neben ihr waren viele High-Performer anwesend, die Ausbildungen rundum kostenintensiv und erstklassig, Luxusgüter ein klar definierter Teil des Lebens. „Mir wurde klar, ich will da gar nicht zugehören. Ich fühle mich einfach fremd. Das ist halt nicht meine Welt.“

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Statt Kontakte zu knüpfen, nutzte sie die Pausen, um spazieren zu gehen, einen Kaffee zu trinken und ihre sozialen Batterien wieder aufzuladen. Das sind Methoden, die sie gerne anwendet, wenn Situationen belastend werden. In intensiven Studienzeiten zum Beispiel. Da trifft man die Bochumerin in ihren Pausen gerne bei einem Kurzspaziergang durch ihr Viertel. An solchen Tagen nutzt sie viel ihrer ohnehin schon knappen Freizeit um Hausarbeiten zu schreiben. „Da habe ich oft das Gefühl, meinen Freundschaften gar nicht gerecht werden zu können.“

Anna pflegt den Kontakt mit den Bürger*innen in ihrem Bezirk. Mit Hayri, dem Besitzer des Ehrenfelder Kiosks „Zum Philosophen“, ist sie regelmäßig im Gespräch.

Zuhause ist für Anna Bochum, Heimat findet sie aber in Menschen und nicht in Orten. Für ihre Heimat und für alle anderen Menschen, für soziale Gerechtigkeit und ein gutes Miteinander möchte sie sich auch zukünftig weiterhin einsetzen. Zuhause in Bochum und wo auch immer ihr Leben sie gerade hinführt.