Die Betonplatten geben den Beat vor. Aus ihrem Fenster an der Ruhr-Universität Bochum kann sie diese zählen. Und hören. Christina Reinhardt sitzt an ihrem Schreibtisch und lässt den Blick schweifen. Der Rhythmus erinnert sie an ein früheres Kapitel.
Stuttgart, Heimatstadt des deutschen Hip-Hops. Wer kennt sie nicht: Cro, den Freundeskreis und die Kolchosen oder die Fantastischen Vier. Beinahe zeitgleich zu den „Fanta 4“ gründeten Christina und ihre Freundin Claudia das Deutsch-Rap-Duo „Die Reinhardt Sisters“. Der Bandname war übrigens eine einfache Entscheidung: beide teilten den gleichen Nachnamen. Der größte „Hit“ der beiden Freundinnen: Eine schwäbische Version des Klassikers „Leaving on a Jetplane“. Doch anders als es John Denver einst besang, war Christinas Abschied keiner auf Zeit, es war einer für immer. Der Wunsch, ihre dröge Heimat zu verlassen, um neue Wege zu bestreiten, war zu groß. Berlin sollte es sein. Eine zufällige Begegnung auf einer Party ließ sie Ihre Pläne jedoch ändern. Dort lernte sie einen Mann kennen, der in Bochum studierte. So zog es sie, mit ihrer neu gefunden Bekanntschaft, 1989 zum Studium in die Stadt an der Ruhr. Mittlerweile lebt Christina seit 34 Jahren hier und ist Bochumerin durch und durch.
Pläne zu ändern, das Selbstbewusstsein zu haben, für so einen mehr oder weniger spontanen Schritt, das kommt nicht von ungefähr und zeugt von Stärke. „Ich hatte das, was man gemeinhin als schwierige Kindheit bezeichnet. Sagen wir mal, die Umstände waren etwas chaotisch, unter denen ich aufgewachsen bin. Und es heißt ja, dass man daran entweder zerbrechen kann, oder eben besonders stark daraus hervorgeht.“ In ihren Jugendtagen sei sie superrebellisch gewesen, sehr wild, und mit Autoritätspersonen hätte sie sich auch gerne mal angelegt. Manchmal schmunzelt sie, wenn sie sich daran zurückerinnert. „Damals hätte das niemand so von mir erwartet: Ich habe Karriere gemacht.“ Heute trägt Christina Verantwortung für viele tausende Menschen. Als Kanzlerin der Ruhr-Universität, der größten Hochschule im Ruhrgebiet und einer der größten Arbeitgeberinnen in Bochum, ist sie nun selbst zur Autoritätsperson geworden.
Zu ihrem Job gehört es, Entscheidungen zu treffen. Eine wichtige und nicht immer einfache Aufgabe — besonders in den letzten krisenbehafteten Corona-Jahren. Manchmal helfen selbst unbequeme Entscheidungen den Menschen — vielleicht nicht auf den ersten Blick. „Die Menschen haben es verdient, ein ehrliches Feedback zu kriegen, auch wenn es negativ ist und wehtun kann.“ Für Christina ist es wichtig, das eigene Führungshandeln und manche schwierigen Entscheidungen zu reflektieren, bei Bedarf auch mit Universitäts-externen Menschen. Am liebsten mit Ihrem Mann Hanno. „Das ist dann die Beratung, die abends auf der Couch stattfindet. „Wir nennen es Couching“, sagt Christina und lacht. Das allerdings findet aktuell, wenn überhaupt, digital statt, denn Christinas Mann hat es beruflich nach Berlin verschlagen — ausgerechnet Berlin — und die gemeinsamen Abende unter der Woche finden derzeit in der gewohnten Form nicht statt. „Dann sitze ich schon Mal abends allein im Garten und denke mir, dass mir mein abendlicher Gesprächspartner fehlt.“
Alleine ist Christina nicht gerne. Diese Momente sind zum Glück selten. In ihrem Leben ist immer etwas los: Zu Hause mit den Kindern, bei ihrer Arbeit in diversen Gremien oder an der Uni.
Der Rhythmus der Betonplatten, die den Beat der Studierenden vorgeben, wenn sie über den Campus laufen, ist leiser geworden.
„Wenn ich aus meinem Fenster gucke und sehe, wie die U35 im Fünf-Minuten-Takt Leute ausspuckt, die über die Brücke kommen, dann sind das einfach nicht mehr so viele wie es vor Corona waren.“ Die Anzahl der eingeschriebenen Studierenden und der Mitarbeitenden sei gleichgeblieben, aber die der Begegnungen hätten abgenommen. Und dann sind da noch die besonderen Einzelschicksale. Ein Vater erzählte Christina, sein Sohn studiere immer noch ausschließlich online und dass er hoffe, dass dies bald ein Ende habe. Als Christina ihm erklärte, dass der Bereich schon lange wieder in Präsenz lehrte, stellte sich heraus, dass der Sohn längst exmatrikuliert war und den ganzen Tag allein in seinem Zimmer verbrachte. Bedrückt sagt sie: „Solche Fälle, gerade bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen hat es bestimmt häufiger gegeben und es gibt sie noch.“
Nicht im Austausch mit anderen zu sein, ist für Christina eine schlimme Vorstellung. Ihre eigene Promotion war für sie keine einfache Zeit. Sie hatte ein zweijähriges Stipendium, schrieb ihre Doktorarbeit in der Geographie. „Das ist ziemlich unsozial gewesen, dieses ganze Promovieren, denn du bist ja allein mit deiner Arbeit. Vielleicht ist das in den Naturwissenschaften anders, wenn viele Menschen im Labor sind und du im Team Experimente machst. Aber ich bin Gesellschaftswissenschaftlerin, wo du am Ende ein Buch schreibst. Zwei, drei, vier Jahre. Das ist schon eine ziemlich einsame Angelegenheit.“ In dieser Zeit war sie in ihrer Arbeit sehr frei, sie hatte wenig Verpflichtungen und ein hohes Maß an Selbstständigkeit. Sich stetig selbst zu organisieren, zu motiveren und diszipliniert zu sein, das ist herausfordernd.
Nach einem Jahr stellte Christina fest, dass sie mit ihrer Dissertation kaum weitergekommen war. Das Fehlen einer Struktur und die fehlende Gemeinschaft machten ihr stark zu schaffen. Sie war oft abgelenkt, suchte lieber den Kontakt zu anderen Menschen, als einsam vor sich hinzuschreiben. Im Winter arbeitete sie nebenbei auf dem Weihnachtsmarkt, verkaufte (mit Verlaub gesagt „hässliche”) Keramik. Die Arbeit war hart, es war kalt und sie arbeitete dort fünf Wochen durch, um Geld zu verdienen. In einer Pause lernte sie durch eine glückliche Fügung Petra kennen. Bei ein paar Hot Dogs tauschten sie sich aus und stellten fest, dass sie in exakt der gleichen Situation waren. Gemeinsam beschlossen sie dann, der Prokrastination ein Ende zu setzen und gründeten die „Arbeitsgruppe zur täglichen Motivation unter Zuhilfenahme sozialer Kontrolle“. Sie trafen sich regelmäßig um 9 Uhr morgens, arbeiteten bis 12 Uhr, aßen gemeinsam zu Mittag und arbeiteten oft noch weiter. Und dann promovierten beide.
Gerne für einen Spaß zu haben. Christina an der Situation Kunst der Ruhr-Uni.
Es war erneut eine zufällige Begegnung, die Christinas Lebensweg deutlich geprägt hat. Diese Begegnungen ziehen sich durch ihr Leben, wie ein roter Faden. Die Nähe zu Menschen zu suchen, neugierig zu bleiben, positiv auf die Welt zu blicken sowie die Bereitschaft, neue Wege zu gehen, sind Eigenschaften, die Christina auszeichnen und ihr im Leben viele Türen geöffnet haben. Eine wichtige Erkenntnis für sie. „Ich habe immer wieder versucht, in individuell kritischen, krisenhaften Situationen Gleichgesinnte zu suchen, die in einer ähnlichen Situation waren, um dann gemeinsam Strategien zu entwickeln, wie man aus dieser schwierigen Situation geschickt rauskommt.“
Begegnungen. Beat. Bochum. Christina schaut aus ihrem Fenster. Zuversichtlich, dass es noch viele weitere zufällige Begegnungen in ihrem Leben geben wird. An der Ruhr-Uni. Oder sonst wo.
Die Betonplatten geben den Beat vor. Aus ihrem Fenster an der Ruhr-Universität Bochum kann sie diese zählen. Und hören. Christina Reinhardt sitzt an ihrem Schreibtisch und lässt den Blick schweifen. Der Rhythmus erinnert sie an ein früheres Kapitel.
Stuttgart, Heimatstadt des deutschen Hip-Hops. Wer kennt sie nicht: Cro, den Freundeskreis und die Kolchosen oder die Fantastischen Vier. Beinahe zeitgleich zu den „Fanta 4“ gründeten Christina und ihre Freundin Claudia das Deutsch-Rap-Duo „Die Reinhardt Sisters“. Der Bandname war übrigens eine einfache Entscheidung: beide teilten den gleichen Nachnamen. Der größte „Hit“ der beiden Freundinnen: Eine schwäbische Version des Klassikers „Leaving on a Jetplane“. Doch anders als es John Denver einst besang, war Christinas Abschied keiner auf Zeit, es war einer für immer. Der Wunsch, ihre dröge Heimat zu verlassen, um neue Wege zu bestreiten, war zu groß. Berlin sollte es sein. Eine zufällige Begegnung auf einer Party ließ sie Ihre Pläne jedoch ändern. Dort lernte sie einen Mann kennen, der in Bochum studierte. So zog es sie, mit ihrer neu gefunden Bekanntschaft, 1989 zum Studium in die Stadt an der Ruhr. Mittlerweile lebt Christina seit 34 Jahren hier und ist Bochumerin durch und durch.
Pläne zu ändern, das Selbstbewusstsein zu haben, für so einen mehr oder weniger spontanen Schritt, das kommt nicht von ungefähr und zeugt von Stärke. „Ich hatte das, was man gemeinhin als schwierige Kindheit bezeichnet. Sagen wir mal, die Umstände waren etwas chaotisch, unter denen ich aufgewachsen bin. Und es heißt ja, dass man daran entweder zerbrechen kann, oder eben besonders stark daraus hervorgeht.“ In ihren Jugendtagen sei sie superrebellisch gewesen, sehr wild, und mit Autoritätspersonen hätte sie sich auch gerne mal angelegt. Manchmal schmunzelt sie, wenn sie sich daran zurückerinnert. „Damals hätte das niemand so von mir erwartet: Ich habe Karriere gemacht.“ Heute trägt Christina Verantwortung für viele tausende Menschen. Als Kanzlerin der Ruhr-Universität, der größten Hochschule im Ruhrgebiet und einer der größten Arbeitgeberinnen in Bochum, ist sie nun selbst zur Autoritätsperson geworden.
Zu ihrem Job gehört es, Entscheidungen zu treffen. Eine wichtige und nicht immer einfache Aufgabe — besonders in den letzten krisenbehafteten Corona-Jahren. Manchmal helfen selbst unbequeme Entscheidungen den Menschen — vielleicht nicht auf den ersten Blick. „Die Menschen haben es verdient, ein ehrliches Feedback zu kriegen, auch wenn es negativ ist und wehtun kann.“ Für Christina ist es wichtig, das eigene Führungshandeln und manche schwierigen Entscheidungen zu reflektieren, bei Bedarf auch mit Universitäts-externen Menschen. Am liebsten mit Ihrem Mann Hanno. „Das ist dann die Beratung, die abends auf der Couch stattfindet. „Wir nennen es Couching“, sagt Christina und lacht. Das allerdings findet aktuell, wenn überhaupt, digital statt, denn Christinas Mann hat es beruflich nach Berlin verschlagen — ausgerechnet Berlin — und die gemeinsamen Abende unter der Woche finden derzeit in der gewohnten Form nicht statt. „Dann sitze ich schon Mal abends allein im Garten und denke mir, dass mir mein abendlicher Gesprächspartner fehlt.“
Alleine ist Christina nicht gerne. Diese Momente sind zum Glück selten. In ihrem Leben ist immer etwas los: Zu Hause mit den Kindern, bei ihrer Arbeit in diversen Gremien oder an der Uni.
Der Rhythmus der Betonplatten, die den Beat der Studierenden vorgeben, wenn sie über den Campus laufen, ist leiser geworden.
„Wenn ich aus meinem Fenster gucke und sehe, wie die U35 im Fünf-Minuten-Takt Leute ausspuckt, die über die Brücke kommen, dann sind das einfach nicht mehr so viele wie es vor Corona waren.“ Die Anzahl der eingeschriebenen Studierenden und der Mitarbeitenden sei gleichgeblieben, aber die der Begegnungen hätten abgenommen. Und dann sind da noch die besonderen Einzelschicksale. Ein Vater erzählte Christina, sein Sohn studiere immer noch ausschließlich online und dass er hoffe, dass dies bald ein Ende habe. Als Christina ihm erklärte, dass der Bereich schon lange wieder in Präsenz lehrte, stellte sich heraus, dass der Sohn längst exmatrikuliert war und den ganzen Tag allein in seinem Zimmer verbrachte. Bedrückt sagt sie: „Solche Fälle, gerade bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen hat es bestimmt häufiger gegeben und es gibt sie noch.“
Nicht im Austausch mit anderen zu sein, ist für Christina eine schlimme Vorstellung. Ihre eigene Promotion war für sie keine einfache Zeit. Sie hatte ein zweijähriges Stipendium, schrieb ihre Doktorarbeit in der Geographie. „Das ist ziemlich unsozial gewesen, dieses ganze Promovieren, denn du bist ja allein mit deiner Arbeit. Vielleicht ist das in den Naturwissenschaften anders, wenn viele Menschen im Labor sind und du im Team Experimente machst. Aber ich bin Gesellschaftswissenschaftlerin, wo du am Ende ein Buch schreibst. Zwei, drei, vier Jahre. Das ist schon eine ziemlich einsame Angelegenheit.“ In dieser Zeit war sie in ihrer Arbeit sehr frei, sie hatte wenig Verpflichtungen und ein hohes Maß an Selbstständigkeit. Sich stetig selbst zu organisieren, zu motiveren und diszipliniert zu sein, das ist herausfordernd.
Nach einem Jahr stellte Christina fest, dass sie mit ihrer Dissertation kaum weitergekommen war. Das Fehlen einer Struktur und die fehlende Gemeinschaft machten ihr stark zu schaffen. Sie war oft abgelenkt, suchte lieber den Kontakt zu anderen Menschen, als einsam vor sich hinzuschreiben. Im Winter arbeitete sie nebenbei auf dem Weihnachtsmarkt, verkaufte (mit Verlaub gesagt „hässliche”) Keramik. Die Arbeit war hart, es war kalt und sie arbeitete dort fünf Wochen durch, um Geld zu verdienen. In einer Pause lernte sie durch eine glückliche Fügung Petra kennen. Bei ein paar Hot Dogs tauschten sie sich aus und stellten fest, dass sie in exakt der gleichen Situation waren. Gemeinsam beschlossen sie dann, der Prokrastination ein Ende zu setzen und gründeten die „Arbeitsgruppe zur täglichen Motivation unter Zuhilfenahme sozialer Kontrolle“. Sie trafen sich regelmäßig um 9 Uhr morgens, arbeiteten bis 12 Uhr, aßen gemeinsam zu Mittag und arbeiteten oft noch weiter. Und dann promovierten beide.
Es war erneut eine zufällige Begegnung, die Christinas Lebensweg deutlich geprägt hat. Diese Begegnungen ziehen sich durch ihr Leben, wie ein roter Faden. Die Nähe zu Menschen zu suchen, neugierig zu bleiben, positiv auf die Welt zu blicken sowie die Bereitschaft, neue Wege zu gehen, sind Eigenschaften, die Christina auszeichnen und ihr im Leben viele Türen geöffnet haben. Eine wichtige Erkenntnis für sie. „Ich habe immer wieder versucht, in individuell kritischen, krisenhaften Situationen Gleichgesinnte zu suchen, die in einer ähnlichen Situation waren, um dann gemeinsam Strategien zu entwickeln, wie man aus dieser schwierigen Situation geschickt rauskommt.“
Begegnungen. Beat. Bochum. Christina schaut aus ihrem Fenster. Zuversichtlich, dass es noch viele weitere zufällige Begegnungen in ihrem Leben geben wird. An der Ruhr-Uni. Oder sonst wo.