reportage

eumel, 25

Es ist September 2023, langsam beginnt der Herbst. Das Laub verändert gemächlich die Farben und die Blätter fallen zu Boden. Auf der Haldenstraße 47 in Bochum steht ein Haus, das sich wunderbar in diese Übergangszeit einreiht. Die Fassade ist zur Hälfte bunt. Besprüht mit Parolen und Symbolen. Die andere Hälfte wurde bereits abgerissen. Das Dach wird Stück für Stück abgetragen. Einige Menschen nennen das Gebäude, das hier halb steht und halb vergeht, liebevoll „Haldi“. Für sie war es einmal eine Heimat auf Zeit.

Diese Menschen, die die Haldi mal erobert und bewohnt haben, werden von einigen für Traumtänzer gehalten. Für Menschen, die sich Parallelwelten schaffen, um eine Zeit lang ungestört ihre Ideale auszuleben. Andere nennen sie einfach Hausbesetzer*innen. Eumel, zum Beispiel, der selbst dabei war, als die Haldenstraße 47 im Oktober 2022 von linksautonomen Aktivist*innen erkämpft wurde, nennt sich selbst Hausbesetzer.

Der Fünfundzwanzigjährige hat eine Zeit lang in der Haldi gelebt. Er war einer der zentralen Ansprechpartner: Archivar, Handwerker, Ratgeber, Kneipenbetreiber und Organisator. Viele Fäden liefen bei ihm zusammen. Inmitten dieser Utopie wurde er ganz ungefragt ein bisschen zu dem, was er selbst eigentlich liebend gern hinterfragt: eine Autorität. Jemand, der manchmal einfach Entscheidungen fällen muss, obwohl er dies doch viel lieber der Gemeinschaft überlässt. Eumel ist natürlich ein Spitzname. Er zieht es vor, nicht bei seinem Klarnamen genannt zu werden. In der Auseinandersetzung zwischen Linken und Rechten kommt es auch in Bochum immer wieder zu Übergriffen und Verletzungen der Privatsphäre. Deshalb zeigen wir auch Eumels Gesicht nicht.

Ich bin in einem Zuhause großgeworden, in dem man immer wusste, man wird geliebt, egal wie man ist. Und man wird unterstützt, egal was man macht.

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Bochum ist schon immer Eumels Heimat gewesen. Als großer Bruder von vier Geschwisterkindern wächst er in einem toleranten und verständnisvollen Haushalt auf. „Ich bin in einem Zuhause großgeworden, in dem man immer wusste, man wird geliebt, egal wie man ist. Und man wird unterstützt, egal was man macht.“, erinnert er sich. In der Grundschule haderte er schon früh mit den vorherrschenden Rollenbildern. Zuhause wurden alle so akzeptiert, wie sie waren. Doch in der Schule mussten Jungs stark sein, um akzeptiert zu werden. Er versuchte sich anzupassen, irgendwie dazuzugehören. Im Gegensatz zu seinem gewohnten Umfeld fühlte sich die Schule für den Jungen an wie ein Kampf. Als er neun Jahre alt war, verstarb seine Mutter und es begann eine schwere Zeit für seine Familie. Eumel weinte oft in der Schule, hatte Zusammenbrüche. „Dann war ich halt das komische Kind.“

Als ältestes Geschwisterkind übernahm er nach dem Tod seiner Mutter schnell viel Verantwortung. Sein Vater, plötzlich alleinerziehend, pendelte jeden Tag nach Bonn zur Arbeit. Mit Angeboten der sozialen Arbeit, viel Geduld und großem Stress schaffte es die Familie durch diese Zeit. Eumels Vater lehrte seine Kinder später, zu ihren Gefühlen zu stehen. „Es ist wichtig, Gefühle zuzulassen, sonst macht man sich kaputt.“, sagt Eumel heute.

Es ist wichtig, Gefühle zuzulassen, sonst macht man sich kaputt.

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In seiner Jungendzeit versuchte Eumel nicht mehr zu den coolen Jungs zu gehören. Von für ihn problematischen Ansichten grenzte er sich klar ab, dabei brach er auch gerne mal das eine oder andere Tabu. Die homophoben Aussagen eines Mitschülers störten ihn so sehr, dass er im Kino spontan seinen besten Freund küsste. Für ihn einfach nur ein deutliches Zeichen gegen Homophobie, doch die Gerüchteküche brodelte sofort über. Als er am Abend nach Hause kam, empfang sein erstaunter Vater ihn schon mit den Worten „Ich wusste gar nicht, dass du bisexuell bist.“

Je weiter Eumel in die Punkmusik und linke Szene vordrang, desto mehr verfestigte sich sein Wunsch, ein progressiver, linker Mann zu werden. „Ich weiß auf jeden Fall, wenn mein Fünfzehnjähriges Ich mich heute so sehen würde, fände es mich ziemlich cool, damit bin ich zufrieden.“

Heute ist Eumel in der linksautonomen Szene gut vernetzt. Soziale und politische Themen sind ihm wichtig, die Haldi47 war für ihn ein Herzensprojekt. In der Zeit der Hausbesetzung wurde die Haldi als Wohn- und Nachbarschaftsprojekt genutzt. Die Aktivist*innen boten Räume für Workshops, Jugendarbeit, und marginalisierte Gruppen. Gleichzeitig machten sie auf gesellschaftliche Themen wie steigende Mieten und Leerstände aufmerksam. Haldi47 war ein Ort der Begegnung, ein Freiraum. Jeder war willkommen. Die Haldi selbst wurde jedoch nicht von allen begrüßt. Die Aktivist*innen berichten davon, dass Nazis das Haus angegriffen haben. Fenster wurde eingeworfen, ein Angreifer habe eine Schusswaffe dabeigehabt. Das Ende des Projekts war jedoch kein gewaltsames. Die Hausbesetzer*innen räumten das Feld zum 1. Mai 2023 mit einer großen Party freiwillig, damit die Eigentümerin des Objekts, die Diakonie Ruhr, das Haus abreißen und den Raum für eine neue Einrichtung nutzen kann.

Räume sind für Eumel ein zentrales Thema. „Das Schaffen von Räumen ist eine der wichtigsten Aufgaben, die ich im Leben übernommen habe.“ Diese Orte können digital sein, aber eben auch echte Mauern haben. „Gemeinschaft kann man einfacher an einem Tresen oder in einer Eckkneipe bilden als irgendwo in einer Privatwohnung. Ich glaube, dass Gemeinschaften, um zusammenzukommen, Orte brauchen.“ Haldi47 war so ein Raum für Gemeinschaft. Manche verweilten aus einer politischen Überzeugung heraus an diesem Ort, andere Menschen suchten ein Refugium und einige lebten hier ihren sozialen Mittelpunkt aus. Das Schließen der Haldi hat eine große Leere hinterlassen. Viele neue Freundeskreise hatten sich gebildet, aber es fehlt jetzt ein gemeinsamer Treffpunkt.

Das Schaffen von Räumen ist eine der wichtigsten Aufgaben, die ich im Leben übernommen habe.

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Eumel ist jemand der Gemeinschaften pflegt und zusammenbringt. Unfreiwillig alleine ist er heute kaum. Die Zeit in der Haldi47 sei auch eine sehr anstrengende Zeit gewesen, verrät er. Mittlerweile kann er kommunizieren, wann er Auszeiten braucht. Das war nicht immer so, er litt an Depressionen und musste erst lernen, auf sich achtzugeben. Wenn er mal alleine ist, dann ganz bewusst. Kurze Auszeiten benutzt er dazu, Dinge zu sortieren und gedanklich einzuordnen. Manchmal sind es auch längere Auszeiten, in denen er seine Batterien auftankt, um wieder neue Energie zu schöpfen. „Alleinsein tut in einem gewissen Maß jedem Menschen gut – zu viel davon auf gar keinen Fall.“, davon ist Eumel überzeugt. Er erzählt von Studierenden, die er in der Haldi47 kennenlernte. „Die sind während der Pandemie nach Bochum gekommen, ohne jemanden zu kennen und haben allein gelebt. In einer solchen Situation, da hätte ich richtig Schiss.“, gibt er offen zu.

Eumel pflegt seine Kontakte und Freundschaften. Er schafft Räume für Ideen und Gemeinschaften. Und Freiräume für sich selbst. Manchmal verschwinden Räume wieder und Gemeinschaften ändern sich. Und dann sucht Eumel den nächsten Ort. Einen, wo man sich über viele Dinge keine Gedanken machen muss.