Interview

Im Gespräch mit einer Einsamkeitsforscherin

Einsamkeit ist naturgemäß etwas Privates, etwas Subjektives ― ein Gefühl eben. Sie ist individuell und oft schwer fassbar. Oder kann man sie vielleicht doch genauer beleuchten? Wir haben mit der Einsamkeitsforscherin Prof. Dr. Maike Luhmann gesprochen. Sie leitet die Fakultät für Psychologie an der Ruhr-Universität in Bochum und bringt etwas Licht ins Dunkel.

Die erste Frage haben Sie schon sehr oft beantwortet. Wir würden aber trotzdem gerne nochmal die Antwort hören: Wie definiert man eigentlich Einsamkeit?

In der Wissenschaft definieren wir Einsamkeit als ein Gefühl, das dann entsteht, wenn die sozialen Beziehungen, die man sich wünscht, und die, die man hat, nicht übereinstimmen. Hat man also weniger Freunde, weniger Kontakt mit anderen Menschen, als man benötigt oder gerne hätte, fühlt man sich einsam.

Warum forschen sie zu diesem Thema? Was hat sie dahin gebracht?

Wie so oft in der Wissenschaft hat mich zu diesem Thema nicht eine bewusste Entscheidung, sondern der Zufall geführt. Ich hatte die Gelegenheit, bei John Cacioppo einen Postdoc zu machen. Er war der Einsamkeitsforscher, der das ganze Thema in der Psychologie wirklich prominent gemacht hat. Ich glaube, interessanter ist, warum ich dabei geblieben bin: als ich nach Deutschland zurückkam, merkte ich, dass es fast niemanden gibt, der sich damit befasst. Das fand ich erstaunlich, weil Einsamkeit ja eine Erfahrung ist, die wir alle mal erleben. Sie ist eine Erfahrung, die wirklich niemandem fremd ist.

Sie ist eine Erfahrung, die wirklich niemandem fremd ist.

Prof. Dr. Maike Luhmann

Umso überraschter war ich, dass das Thema in der deutschen Psychologie so unterrepräsentiert war. Aus der wissenschaftlichen Perspektive ist das natürlich spannend — da gibt es noch jede Menge unbeantwortete Fragen. Das hat mich gereizt. In den letzten Jahren vor der Pandemie, aber besonders auch durch diese Zeit, hat das Thema noch mal ganz schön an Fahrt aufgenommen und auch eine politische Dimension entwickelt. Ich merke: ich kann nicht nur neues Wissen schaffen, sondern auch wirklich etwas bewegen.

Gibt es Länder, die ihre Aufmerksamkeit stärker der Einsamkeit widmen als andere?

Ja, auf jeden Fall. Also Vorreiter ist da Großbritannien. Schon 2018 haben sie ein sogenanntes „Einsamkeitsministerium“ berufen. Kein Ministerium im klassischen Sinne, sondern eher vergleichbar mit der Rolle des Drogenbeauftragten. Vor allen Dingen ist dieses Ministerium mit Geld und Einfluss ausgestattet. UK treibt sowohl die Umsetzung von Maßnahmen als auch die Förderung von Einsamkeitsforschung voran. In den letzten Jahren haben aber einige Länder ganz erheblich aufgeholt. In der deutschen Politik passiert gerade sehr viel und auch auf EU-Ebene gibt es Initiativen. Recht viele Länder haben zum Beispiel Strategien gegen Einsamkeit entwickelt oder Beauftragte bestimmt. In Japan ist das jetzt ein Thema, in den USA wurde gerade die amerikanische Strategie gegen Einsamkeit vorgestellt. Im Moment passiert wirklich sehr, sehr viel.

Ist das Thema selbst mehr in den Fokus gerückt oder tritt das Phänomen Einsamkeit verstärkt auf?

Vor der Pandemie hätte ich gesagt, auf jeden Fall ersteres. Dies ist auch bis heute so. Manchmal gibt es so Themen, die plötzlich präsent sind. Nicht, weil sie etwas komplett Neues wären. Ich glaube, es können sich einfach sehr viele Menschen damit identifizieren. Es gibt immer mehr Evidenz, die zeigt, dass Menschen, die lange einsam sind, schneller krank werden und sogar früher sterben.

Es gibt immer mehr Evidenz, die zeigt, dass Menschen, die lange einsam sind, schneller krank werden und sogar früher sterben.

Prof. Dr. Maike Luhmann

Dies gibt dem Thema natürlich eine besondere Relevanz, die in den letzten Jahren besonders deutlich geworden ist. Während der Pandemie kam es auch dazu, dass mehr Menschen unter dieser Einsamkeit litten. Ob das heute noch so ist? Jetzt ist es schon wieder eine Weile her, dass wir Kontaktbeschränkungen hatten. Wir wissen es noch nicht. Dazu haben wir noch keine aktuellen Daten. Ich vermute aber, dass wir nicht wieder bei den Vor-Pandemie-Levels sind, sondern dass es immer noch Spuren gibt.

Hat Corona unser Empfinden zur Einsamkeit beeinflusst?

Mehr Menschen sind sich bewusst, dass es so etwas wie Einsamkeit gibt. Und dass sie selbst auch davon betroffen sein können. Das ist also nicht etwas, das, sagen wir mal, nur die alte Witwe betrifft, sondern einen wirklich in jeder Lebensphase treffen kann. Mein Eindruck ist, dass das Bewusstsein dafür deutlich angestiegen ist. Ob wir uns deswegen schneller einsam fühlen als früher, das weiß ich nicht. Hoffentlich ist das Thema Einsamkeit jetzt weniger stigmatisiert, im Vergleich zu vor der Pandemie. Es ist aber weiterhin ein starkes Tabuthema, da muss noch einiges getan werden.

Wir haben mit Leuten gesprochen, die das Gefühl hatten, dass nach der Pandemie mehr soziale Kontakte gesucht werden. Und da stand auch die Frage im Raum: kompensieren wir eigentlich gerade über?

Ich habe mich das auch schon selbst gefragt und glaube, dass viele Menschen auf jeden Fall kompensieren. Das kann man aber auch positiv deuten: Vielen Menschen ist bewusst geworden, wie wichtig eigentlich soziale Beziehungen und soziale Kontakte sind. Vielleicht investiert man auch bewusst mehr in soziale Beziehungen, als man es früher getan hat. Das wäre die schöne Interpretation der „Überkompensation“. Der Begriff klingt ein bisschen übertrieben, wie etwas, das in die falsche Richtung geht. Im Einzelnen mag das so sein, aber ich glaube nicht, dass das bevölkerungsübergreifend so zutrifft. Am Ende muss jeder selbst entscheiden. Wir sind ja nicht alle gleich, wir haben sehr unterschiedliche Bedürfnisse.

Wir sind ja nicht alle gleich, wir haben sehr unterschiedliche Bedürfnisse.

Prof. Dr. Maike Luhmann

Eingangs habe ich gesagt: Einsamkeit tritt dann auf, wenn die Beziehungen, die wir haben, nicht dem entsprechen, was wir brauchen oder uns wünschen. Was wir brauchen und uns wünschen, ist von Person zu Person sehr unterschiedlich. Manchen reicht es, einen Freund zu haben. Andere müssen jeden Tag mit ganz vielen Menschen ausgehen, sonst fühlen sie sich einsam. Daher ist es schwierig, so pauschal von einer „Überkompensation“ zu sprechen.

Weiß man, woher diese unterschiedlichen Bedürfnisse kommen?

Ja, das hat sehr viel mit der Persönlichkeit zu tun. Also Menschen, die von Natur aus extravertiert sind, brauchen mehr. Mehr Kontakte, mehr Stimulation von außen. Während jemand, der sehr introvertiert ist, auch sehr gut mit sich allein zurechtkommt und von Menschen sogar mal etwas überfordert ist. Introvertierten wird es dann viel zu viel und sie müssen sich wieder zurückziehen. Das ist eine Persönlichkeitseigenschaft, die hier wichtig ist. Eine zweite, die auch wichtig ist, nennen wir emotionale Stabilität. Menschen, die emotional stabil sind, ruhen eher in sich. Sie lassen sich nicht so schnell aus dem Konzept bringen. Den Gegenpol nennen wir Neurotizismus. Das bedeutet, dass man zum Beispiel stärkere Stimmungsschwankungen hat, sich vor allem aber auch schneller Sorgen macht, schneller ängstlich ist und schneller das Negative in den Dingen wahrnimmt. Menschen, eher auf der Neurotizismus-Seite sind, neigen deswegen auch dazu, eine negative Emotion wie Einsamkeit zu empfinden.

Diese beiden Persönlichkeitseigenschaften sind teilweise sogar vererbbar, es gibt also einen gewissen genetischen Einfluss.

Kann man trotz genetischen Einflusses lernen, anders damit umzugehen?

Man kann sich das vielleicht so vorstellen: Durch den genetischen Einfluss wird man auf eine bestimmte Spur gesetzt wird. Aber es ist nicht unmöglich, davon wegzukommen. Es ist nur so, dass manche weiter links anfangen und manche weiter rechts. Für die einen ist es vielleicht etwas schwieriger, sich mit Menschen zu umgeben oder auf sie zuzugehen, als für andere. Aber das heißt nicht, dass das nicht zu verändern ist und festgelegt ist. Jeder von uns hat da einen gewissen Spielraum und bei manchen liegt dieser Spielraum eben woanders als bei anderen Menschen.

Prof. Dr. Maike Luhmann forscht an der der Ruhr-Universität Bochum mit den Schwerpunkten: Einsamkeit, Subjektives Wohlbefinden, Lebensereignisse und Persönlichkeitsentwicklung.

Welche Formen von Einsamkeit gibt es?

Innerhalb der Einsamkeit ist es möglich, zwischen verschiedenen Facetten zu unterscheiden. Da gibt es zum Beispiel die Unterscheidung zwischen emotionaler und sozialer Einsamkeit. Emotionale Einsamkeit tritt dann auf, wenn eine sehr intime Beziehung fehlt. Das ist oft etwas, was eine Partnerin oder ein Partner erfüllt, aber vielleicht auch enge Freunde oder Familienmitglieder. Jemand, mit dem man ganz intime Gedanken austauschen kann. Es geht nicht um körperliche Intimität, sondern darum, sich anzuvertrauen. Fehlt so jemand, dann empfindet man emotionale Einsamkeit.

Soziale Einsamkeit erweitert den Personenkreis. Sozial einsam ist man dann, wenn einem ein Freundeskreis fehlt, wenn man das Gefühl hat, man ist nicht so richtig zugehörig zu einer bestimmten Gruppe von Menschen. Manchmal gibt es noch die weitere Unterscheidung zur kollektiven Einsamkeit. Darunter versteht man das eher diffuse Gefühl, dass eine große Gemeinschaft fehlt. Wenn ich zum Beispiel Fan von einem bestimmten Fußballverein bin, dann gibt mir das so eine Zugehörigkeit. Die besteht auch dann, wenn ich nicht jeden einzelnen anderen Fan kenne. Trotzdem habe ich das Gefühl, ich gehöre zu einer Gemeinschaft dazu. Man kann das auch größer fassen: Fühl ich mich zugehörig zur Gesellschaft in Bochum oder in Deutschland? Das ist dann dieser kollektive Aspekt.

Wir haben in unseren Gesprächen zum Projekt oft das Gefühl, es gibt eine große Scham über Einsamkeit zu sprechen. Kann man sagen, woher die stammt?

Ja, ich glaube, die hat damit zu tun, dass wir Menschen soziale Wesen sind. Die Fähigkeit, sich mit anderen Menschen gut zu verstehen, ist für unser Überleben wichtig gewesen. Denken wir jetzt mal wirklich lange, lange zurück in unserer evolutionären Geschichte: wenn man alleine, also isoliert war, dann war man bedroht und hatte schlechtere Überlebenschancen.

Denken wir jetzt mal wirklich lange, lange zurück in unserer evolutionären Geschichte: wenn man alleine, also isoliert war, dann war man bedroht und hatte schlechtere Überlebenschancen.

Prof. Dr. Maike Luhmann

Die Gruppe war unbedingt notwendig. Das heißt: soziale Kompetenzen sind ganz tief in uns verankert. Und ich glaube, dass Menschen, die einsam sind, oft die Schuld bei sich selbst suchen. Vielleicht haben sie Gedanken wie: „Okay, ich habe keine Freunde. Woran mag das liegen? Anscheinend mag mich keiner, anscheinend bin ich eine Person, mit der man sich nicht gerne umgibt. Vielleicht kann ich nicht gut mit Menschen. Vielleicht weiß ich nicht, wie man auf Menschen zugeht, mir fehlt da irgendwie so eine ganz fundamentale Kompetenz.“ So denkt man natürlich nicht wörtlich, aber vielleicht sinngemäß. Das sind also Gedanken, die sehr naheliegen. Und die sehr schnell an den tiefsten Kern unseres Wesens gehen: nämlich wir Menschen als soziale Wesen. Wenn man es ganz, ganz zugespitzt formulieren möchte: „Und ich passe da irgendwie nicht hinein in dieses Konzept. Offensichtlich kann ich nicht wie ein Mensch leben.“ Und das führt dann natürlich zu Scham. Weil das Gefühl entsteht, man ist ein schlechterer Mensch — obwohl das in der Regel nicht stimmt. Es gibt einfach diejenigen, die sich schwer tun mit anderen Menschen. Manchen fehlt es tatsächlich an sozialen Kompetenzen, aber für den überwiegenden Teil der Menschen, die unter Einsamkeit leiden, ist das nicht der Fall. Da hat die Einsamkeit andere Ursachen. Deswegen ist es wichtig, dass wir als Gesellschaft auch darüber sprechen, woher Einsamkeit kommt. Was sind die Ursachen? Das hat nichts mit dir persönlich zu tun, das geht sehr vielen anderen auch so. Es gibt auch Wege daraus. So kann man diese Scham und auch dieses Stigma, was damit einhergeht, ein bisschen überwinden.

Abgesehen davon, dass die Gesellschaft aktiv wird, wie zum Beispiel Sie in der Forschung, oder dass Maßnahmen ergriffen werden, um stärker zu kommunizieren: Was kann man Menschen raten, die sich in einer solchen Gedankenspirale befinden?

Das Erste ist tatsächlich, sich bewusst zu machen, dass es ein Symptom von Einsamkeit ist, dass man in diese Gedankenspirale hineingerät. Da gehört sogar noch mehr dazu, nicht nur diese Selbstabwertung, die ich gerade beschrieben habe. Wir wissen auch, dass Menschen, die längere Zeit einsam sind, anfangen, ihre Umgebung anders wahrzunehmen: als bedrohlicher. Das ist wirklich evolutionär in uns verankert: Alleinsein ist ein Zustand der Bedrohung. Im besten Fall führt das dazu, dass man bewusst andere Menschen aufsucht, um aus dieser Bedrohung herauszukommen. Aber wenn das nicht klappt kann man in so eine Negativspirale reingeraten und auch andere Menschen als bedrohlich wahrnehmen. Das ist ganz paradox. Eigentlich sollten andere Menschen etwas Positives sein, besonders die, die einfach den Kontakt mit uns suchen. Aber, weil ich in diesem konstanten Bedrohungsstatus bin, merke ich das nicht mehr. Ich scanne immer meine Umwelt nach Bedrohungen ab und nehme sie dann auch dort wahr, wo sie gar nicht sind.

Ich scanne immer meine Umwelt nach Bedrohungen ab und nehme sie dann auch dort wahr, wo sie gar nicht sind.

Prof. Dr. Maike Luhmann

Als Beispiel eine neutrale Begegnung: Im Hausflur begegnet mir der Nachbar, der eigentlich immer gegrüßt hat. Diesmal grüßt er nicht. Wahrscheinlich war er einfach müde, unaufmerksam oder gestresst. Jemand, der unter Einsamkeit leidet, denkt aber sehr viel schneller: „Oh, jetzt mag der mich auch nicht. Noch einer der mir verloren gegangen ist.“ Und was macht man dann? Man reagiert zum Beispiel auf so eine leicht feindselige Art: Das nächste Mal auch nicht zurückgrüßen. „Das hat er jetzt davon.“ Oder sich zurückziehen und die Situation vermeiden. „Ach oh Gott, jetzt ist der wieder im Hausflur unterwegs, ich warte mal, bis der in seiner Wohnung verschwunden ist. Ich will dem jetzt nicht begegnen.“ Beide Varianten führen dazu, dass man diesem Nachbarn weniger oft begegnet, weniger Gelegenheiten für positive Begegnungen erhält und selbst negativer denkt. Dann ziehen sich vielleicht auch andere Menschen zurück. Dadurch wird diese Einsamkeit verstärkt, das ist eine Negativspirale. Da ist es schwer herauszukommen. Der erste Schritt: Wissen, dass es sie gibt. Und sich selbst zu hinterfragen: „Moment mal, gibt es nicht auch eine andere Interpretation für das Verhalten dieser Person? War das gerade gar nicht gegen mich gerichtet und ich gebe der anderen Person einfach noch eine Chance?“ Das ist aber schwierig, das gelingt nicht allen. Gerade Menschen, die schon sehr lange einsam sind, brauchen dann auch mal Unterstützung von außen. Es gibt psychotherapeutische Techniken, die genau da ansetzen und diesen Leuten beibringen, umzuinterpretieren.

Wie kann man einsamen Menschen helfen? Wenn man merkt, dass sich jemand zurückzieht, was ist dann eine gute Methode, um der Person eine helfende Hand zu reichen?

Auf die Person zugehen, auf welche Art auch immer man das in der Vergangenheit gemacht hat. Nicht aufgeben. Dieses Wissen um die Negativspirale, das hilft auch den Angehörigen, den Freunden, wenn diese Person sich mal komisch verhält oder sich zurückzieht. „Okay, das ist ein Symptom der Einsamkeit. Das ist jetzt nicht gegen mich persönlich gerichtet, eigentlich ist es anders gemeint. Die kann im Grunde nichts dafür, dass sie das gerade so wahrnimmt.“ Beharrlich bleiben. Ob man das Thema direkt anspricht, hängt sehr von der Person ab. Geht man auf jemanden zu und sagt: „Oh, ich habe das Gefühl du fühlst dich vielleicht einsam oder so“, gibt es manche Menschen, die sehr gut drauf ansprechen und sich freuen, dass sie sich öffnen dürfen. Es gibt aber auch Menschen, die sich genau dann besonders zurückziehen. „Ne, damit habe ich nichts zu tun.“

Wie gehen Sie persönlich mit Einsamkeit um?

Indem ich mir immer wieder selbst bewusst mache, weil ich ja auch so oft darüber rede, dass soziale Beziehungen wirklich das Wichtigste im Leben sind. Klar, Forschung und Arbeit sind auch wichtig und gerade in der Wissenschaft haben wir ja auch viele Menschen, die für die Arbeit brennen. Die kennen nichts anderes und ordnen alles andere unter — und genau das ist gefährlich. Ich habe mich bewusst dafür entschieden: die sozialen Beziehungen haben ihren Stellenwert, die kriegen ihren Raum in meinem Alltag.

Ich habe mich bewusst dafür entschieden: die sozialen Beziehungen haben ihren Stellenwert, die kriegen ihren Raum in meinem Alltag.

Prof. Dr. Maike Luhmann

Dann wird es halt mal ein Paper weniger oder ein Projekt weniger. Jetzt ist die Phase, wo man da investieren muss. Sind Beziehungen und Freundschaften erstmal weg, sind sie weg. In meinem Beruf bin ich viel herumgekommen, es ist üblich, oft umzuziehen. Und jedes Mal muss man irgendwo neu anfangen, es wird nicht einfacher. Deswegen weiß ich die Freundschaften, auch gerade die alten, sehr zu schätzen und auch die Beziehungen zu Familie, zu Geschwistern etwa, in meinem Fall.

Welchen gesellschaftlichen Umgang mit der Einsamkeit wünschen sie sich für die Zukunft?

Als Gesellschaft überhaupt über das Thema Einsamkeit sprechen zu können. Dass wir dem Alleinsein auch Raum geben. Soziale Erwartungen auch mal zu hinterfragen: „Ja, also muss man immer zu zweit essen gehen, oder ist es auch allein einfach okay?“ Gegen Einsamkeit einstehen, aber Alleinsein akzeptieren und normalisieren. Das gewollte, gewünschte Alleinsein. Ganz allgemein wünsche ich mir, dass wir es als Gesellschaft schaffen, den sozialen Beziehungen einen höheren Stellenwert einzuräumen und sicherzustellen, dass dafür Zeit gewährt wird.

Ganz allgemein wünsche ich mir, dass wir es als Gesellschaft schaffen, den sozialen Beziehungen einen höheren Stellenwert einzuräumen und sicherzustellen, dass dafür Zeit gewährt wird.

Prof. Dr. Maike Luhmann

Soziale Beziehungen auf politischer Ebene von vornherein mitzudenken. Also bei politischen Entscheidungen nicht nur zu fragen, welche Auswirkungen sie auf den Staatshaushalt oder das Klima haben, sondern auch auf sozialen Zusammenhalt und auf die persönlichen sozialen Beziehungen. Das klingt jetzt ein bisschen, als stünde es im Gegensatz zum Klima. Aber gerade bei Entscheidungen, die auf Nachhaltigkeit im Sinne von Klima gehen, ist es oft dieselbe Richtung, die auch sozial nachhaltiger wäre. Eine Stadt zu schaffen, wo man viel zu Fuß machen kann, wo es Begegnungsorte gibt, wo man, ohne Geld haben zu müssen, einfach sein darf, sich aufhalten darf. Das ist für das Klima und den sozialen Zusammenhalt gut. Das ist meine Vision. Wenn Bochum da voranschreiten würde, fände ich das prima.

Wenn Bochum da voranschreiten würde, fände ich das prima.

Prof. Dr. Maike Luhmann

Welchen Themen möchten Sie sich als nächstes widmen?

Ich glaube, es gibt einen ganz komplexen Zusammenhang von Einsamkeit und Arbeit. Aber ich habe festgestellt, dass dieser kaum erforscht wurde. Wie steht es zum Beispiel um die Verantwortung von Arbeitgebern? Ist Einsamkeit nicht vielleicht auch als Teil von Arbeitsschutz und von Arbeitsmedizin anzusehen? Arbeit kann ein Schutzfaktor, aber auch ein Risikofaktor sein. Wenn sie mich etwa davon abhält, meine vorhandenen Beziehungen zu pflegen, weil ich so viel arbeiten muss.

Arbeitgeber stehen in der Verantwortung, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen. Da gibt es noch viel zu hinterfragen und zu erforschen.